Das Pietà-Institut ist seit seiner Entstehungszeit im Jahre 1346 eine unglaublich interessante Einrichtung; damals konnte es geschehen, dass kleine Kinder, anfangs nur aus armen Familien, auf den Straßen Venedigs ausgesetzt wurden, eine Plage, unter der viele andere Städte gleichermaßen litten.

 

Die Institution, die damals entstand, um diese Kinder aufzunehmen, ist auch heute, trotz zahlreicher Veränderungen im selben Bereich sehr aktiv tätig (siehe den Post von Anna Venier unter dem Titel: “Un orfanatrofio, la musica e la sua chiesa: la Pietà”,

 

Glücklicherweise werden Kinder nicht mehr auf der Straße ausgesetzt, es existieren jedoch weiterhin Kinder und Familien, die fragil sind und denen sich das Pietà-Institut heute widmet.

 

Die Institution entstand durch das Engagement eines Franziskanerbruders, Fra’ Pietruccio d’Assisi, der unter dem Motto “Pietà” (Mitgefühl) begann, Almosen zu sammeln, um den Kindern Nahrung, ein Dach über dem Kopf und eine Erziehung zu garantieren. Weltliche Gruppen, d.h. die Patrizier und andere Bürger, beteiligten sich sehr bald durch Gaben und Schenkungen unterschiedlicher Art, wie z.B. Immobilien, und standen auf diese Weise dem Institut zur Seite (Foto Nr. 1).

Häuser bei der S. Eufemia-Kirche: das zu dem Pietà-Institut zugehörige Gebäude ist hervorgehoben und an den dunklen Fenstern erkennbar

Während die Jungen schon sehr bald “hinaus” in Werkstätten geschickt wurden und ein Handwerk erlernten, um früh unabhängig und selbständig zu werden, so lebten fast alle Mädchen – zu ihrem Schutz – innerhalb der Pietà-Anlage.

 

Sie kümmerten sich um alles, was mit der häusichen Organisation zusammenhing, aber darüber hinaus führten sie beispielsweise Schneiderarbeiten aus, d.h. sie trennten von reichen Venezianerinnen gestiftete Kleider (auch Brautkleider) auf und nähten daraus Gewänder für Geistliche wie Kasel, Tunicella (kleine Tunika, Foto Nr. 2)

Bestickte Tunicella (kleine Tunika) aus dem XVII. Jh.

und Pluviale (Foto Nr. 3)

Besticktes Pluviale aus dem XVII Jh.

oder stellten kostbare Spitze her, welche in die Kirchenausstattung einging (Foto Nr. 4).

Albe mit Spitzenbesatz an den Rändern aus Luftstich, Besitz des Pietà-Instituts (Ende 1600-Beginn 1700), Ausschnitt

Eine der faszinierendsten Entwicklungen betrifft hingegen die Musik.

 

Während des XVI. Jahrhunderts begannen die besten Frauenstimmen Gesänge für Gottesdienste und andere kirchliche Feierlichkeiten auszuführen, anfangs aus Spaß und zum eigenen Vergnügen und um Abwechslung in den Alltag zu bringen. Dies erhöhte auf indirekte Weise die Almosen (denn die durch Musik erfreuten Gläubigen gaben gerne mehr).

 

Hieraus entstand das wachsende Engagement der Institution, immer bekanntere Musiklehrer anzustellen, zuerst um die stimmlichen Fähigkeiten, danach auch die instrumentale Qualität der “Putte”, wie die Pietà-Töchter genannt wurden, zu verbessern.

 

Unter den bekanntesten “Maestri” befindet sich zweifellos Antonio Vivaldi, der dort von 1703 bis 1740 tätig war, wie man aus der Erinnerungsplakette an der Fassade des heutigen Hotel Metropole ersehen kann (siehe Post von Fiona Giusto http://www.venicetours.it/de/vivaldi-und-die-virtuosen-waisenmaedchen-von-la-pieta-in-venedig/). 1740 verließ Vivaldi die Stadt, um nach Österreich zu gehen, von wo er nicht mehr zurückkehren sollte.
Im Innen- und Außenbereich des Hotel Metropole befinden sich einige architektonische Elemente der ehemaligen Pietà-Anlage, wie die schöne Wendeltreppe (Foto Nr. 5)

Wendeltreppe aus der alten Pietà-Anlage, heute Teil des Hotel Metropole

und der Almosenbildstock (Foto Nr. 6).

Almosenbildstock

Außer seinen weltbekannten Werken komponierte Vivaldi des Öfteren Motetten, Psalmvertonungen, Konzerte u.a. für Frauenchor, die genau auf die außerordentlichen stimmlichen Möglichkeiten der Chormädchen der Institution zugeschnitten waren und erwarb außerdem Instrumente, die speziell der Begabung einzelner Musikerinnen entsprachen.

 

Ein Beispiel hierfür ist die Sonate RV779, die speziell für “Prudenza dal Violin”, “Pellegrina dall’Oboe”, “Lucietta Organista” und “Candida Salmoè” (nach dem Chalumeau, einem Vorgängerinstrument der Klarinette) komponiert wurde. Die Putte erhielten oft ihren Nachnamen nach dem Instrument, welches sie spielten.

 

Im übersichtlichen, aber außerordentlichen Museumsparcours der Pietà-Kirche “ViVe, Vivaldi Venezia” (Fotos Nr. 7 und 8)

Ansicht der ersten Museumssäle

Nahaufnahme des Museums

sind einige Barockinstrumente der damals sehr reichhaltigen Instrumentensammlung des Pietà-Instituts ausgestellt.
Darunter befinden sich – außer den unverzichtbaren Geigen (eine Guarn(i)eri-Geige ist auch dabei, Foto Nr. 9),

Eine Geige des berühmten aus Cremona stammenden Geigenbauers Guarnieri (ca. 1654)

und Hörnern (Foto Nr. 10)

Geigen und Hörner mit Spiegelung im Hintergrund

– auch Instrumente, die damals wegen ihrer breitbeinigen Spielposition für Frauen verpönt waren,  vornehmlich von Männern gespielt wurden, aber trotzdem im Pietà-Institut üblich waren, wie der Kontrabass (Foto Nr. 11)

Ausschnitt der Instrumentenausstellung; im Vordergrung ein schöner Kontrabass mit Saiten aus Naturdarm

und das Cello (Foto Nr. 12).

Berühmtes Cello, das Goffriller zugeschrieben wird (Beginn 18. Jh.)

Sie wurden regelmäßig von den Putte gespielt, die, wie man gut erkennen kann, auf dem Fresko der Tiepolo-Decke als Mädchen mit engelhaften Stimmen dargestellt wurden (Foto Nr. 13).

Ausschnitt aus dem Deckengemälde mit Kontrabass im Vordergrund zwischen Trompete und Langhalslaute

Auch heute werden viele Konzerte in der Pietà-Kirche aufgeführt, Vivaldi selbst hat die heutige Form der Kirche nicht erlebt, aber bereits zu seinen Zeiten war sich das Waisenhaus der Notwendigkeit eines größeren Raumes bewusst. Die Kirche besitzt eine Nacchini-Orgel aus dem Jahre 1759, die auch nach ihren Restaurierungen einen ausgezeichneten Klang besitzt, wie wir gut hören können (Video mit der Orgel der Pietà-Kirche und der Organistin Paola Talamini, die Vivaldi spielt — „Die vier Jahreszeiten“).

 

Das kleine Oratorium, dessen Ort nun Teil des Hotel Metropole ist (Foto Nr. 15),

Rechts der noch nicht fertiggestellten Kirchenfassade das Vorgängergebäude des Hotel Metropole: links des Eingangs das alte kleine Oratorium; im Vordergrund die Kinder der unterschiedlichen “Konservatorien” Venedigs, rot gekleidet diejenigen des Pietà-Instituts

reichte nicht aus, um sowohl die Musiker, als auch die Künstler und Intellektuellen zu fassen, die sich im 18. Jahrhundert auf der Grand Tour durch Italien befanden.

 

Diese Besucher verpassten es bei ihrem venezianischen Aufenthalt nie, den Konzerten der venezianischen “Konservatorien” beizuwohnen und statteten der Pietà-Kirche einen Besuch ab, um die berühmten “Putte” singen und spielen zu hören.

 

Das “Istituto Provinciale per l’infanzia Santa Maria della Pietà”, wie die Einrichtung sich heute nennt, kultiviert weiterhin das Interesse an der Musik, vor allem an der Musik der “Maestri”, die dort tätig waren.

 

Unter den Konzerten, denen ich persönlich beigewohnt habe, erinnere ich mich sehr gerne an einen Abend mit den Virtuosi Italiani (Video mit einigen Takten der ersten Geige)

während dessen Sara Mingardo, einem hervorragenden Alt, der Vivaldi-Preis verliehen wurde. Hier können wir den letzten Teil einer Psalmvertonung von Vivaldi hören, die vor Kurzem entdeckt worden war, In Saecula Saeculorum (Video mit den letzten Takten der Psalmvertonung Laetatus sum)

Das Institut passt seine Berufung der sozialen Hilfe in absolut moderner Weise einer zeitgerechten Sensibilität und aktuellen Bedürfnissen an.

 

Im Einklang mit den großen Themen der 57. Kunstbiennale hat das Pietà-Institut 2017 zum ersten Mal in seiner Geschichte im Kircheninnern eine Ausstellung veranstaltet: Exodus stellt einen Werkzyklus des bosnischen Künstlers Safet Zec vor, der sich mit der Problematik der Aufnahme von Kindern und Erwachsenen befasst, nicht nur in Bezug auf Hunger, sondern auch auf unterschiedliche Arten des Ausgeschlossenseins, wie Armut, Andersartigkeit und Fremdsein (Foto Nr. 18 und 19).

Safet Zec: :„Mann und Kinder“, 2017, Tempera auf Papier auf Leinwand

Safet Zec: Ausschnitt aus „Polyptychon Boot“, 2017, Tempera auf Papier auf Leinwand

Das Institut beherbergt in seinen zahlreichen Räumlichkeiten außerdem Werke von Künstlern anderer Länder, wie z.B. dem interessanten Charles Bhebe (Foto Nr. 20)

Charles Bebe: “Quest for belonging”

und Dhana Whabira (Foto Nr. 21)

Dhana Whabira: Ausschnitt aus einem seiner „Circles of Uncertainty“

der mit unregelmäßigen Kreisen arbeitet, beide aus Simbabwe.

 

Die originelle Eve Ariza vertritt mit dem Werk Murmuri (=Murmeln) Andorra; es handelt sich um fast nicht wahrnehmbare Vibrationen, die von trichterförmigen Tonschüsseln unterschiedlicher Form und Farben erzeugt werden, welche die Schönheit der Vielfältigkeit unterstreichen sollen. Man hört sie nur, wenn man sich dem Werk, in Isolation vor den Geräuschen der Welt, annähert (Foto Nr. 22).

Eve Ariza: “Murmuri”

In der heutigen Zeit der Globalisierung kann die kleine, aber doch groß(artig)e Einrichtung der Pietà nicht nur ihre ursprüngliche Funktion in aktueller Weise weiterführen, sondern – mit Hilfe der Musik und der Kunst – einen Lichtblick aufzeigen, welcher den Weg für Problemlösungen anbietet, die in der Spannung zwischen Begegnung und Konflikten mit dem Anderen entstehen und denen sich heute die ganze Welt stellen muss.

 

Loredana Giacomini
BestVeniceGuides
loredanagiacomini@gmail.com

 

 

 

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