Gibt es in Venedig Abwasserkanäle?

Apr 23, 2020Architektur, Geschichte, Kanalisation, Umwelt0 Kommentare

Die Abwasserbehandlung in Venedig ist ein Thema, das genauso viel Interesse weckt wie die Geschichte und Kunstwerke der Stadt. Der Bau einer Stadt mitten in einer Lagune war sicherlich eine große Herausforderung und viele Besucher Venedigs fragen, wie das funktionieren konnte. Vielleicht sollten wir uns erst einmal fragen, was passiert, wenn man auf die Toilette geht.

Während Venedig hinsichtlich der Aquädukte, der Elektro- und Methangasanlagen durchaus modern ist, hat es für die Kanalisation eine ganz besondere Lösung entwickelt.

Bis in die 1960er Jahre wurde das Abwasser langsam in die sogenannten „gatoli“ geleitet, ein  Kanalsystem aus Backstein, das schließlich in die Kanäle führte. Dieses erfindungsreiche System wurde bereits im 16. Jahrhundert entwickelt.

A typical “gatolo” allowing sewage to reach the canal in Venice

ein typischer „gatolo“, der das Abwasser in einen Kanal in Venedig führt.

Diese Tunnel wurden aus Tonziegeln gebaut und waren so konstruiert, dass das schwerere Sediment auf den Boden sackte, während der flüssige Teil in den Kanal floss. Die heutigen Klärgruben arbeiten nach einem ähnlichen Prinzip. Die festen Bestandteile der „gatoli“ wurden ständig entleert.

So entstand eine ideale Situation: die Straßen der Stadt blieben sauber! Außerdem hatte das Brackwasser der Lagune auch eine desinfizierende Wirkung und die Flut spülte die Kanäle immer wieder sauber.

Dieses System überlebte bis in die 60er Jahre, als der Wirtschaftsboom auch Venedig erreichte. Wasch- und Geschirrspülmaschinen waren auch aus den venezianischen Häusern nicht mehr wegzudenken. Chemische Reinigungsmittel und Toilettenpapier fanden immer größeren Einsatz. Auch die „gatoli“ der Stadt erhielten viel mehr Wasser als früher. Leider ging das auch mit dem Beschluss der Gemeinde einher, die „gatoli“ nicht mehr zu reinigen und die Kanäle auszubaggern, kurz gesagt, man außerordentliche Maßnahmen, auch wenn die routinemäßige und kontinuierliche Wartung  deutlich besser gewesen wäre.

Damit die Ausflüsse der „gatoli“ in die Kanäle nicht zu verstopften, wurden diese immer weiter nach ober versetzt. Das hatte zu Folge, dass sie bei Ebbe freilagen, was durchaus unangenehme Folgen hatte: Gestank, schreckliche Hygienebedingungen in den Kanälen, Ratten und…. Insekten. Ich erinnere mich sehr gut daran, als ich das Wort „Chironomide“ lernte. Die Glaswände der Vaporettostationen waren mit diesen nicht stechenden Mücken vollkommen übersäet. Moskitos bedeckt. Das war 1987. Es gab eine regelrechte Insektenplage in der Lagune, eine Folge der Eutrophierung des Wassers.

Einige Jahre später wurde an einer Lösung gearbeitet. Die Kartierung der „gatoli“ war nützlich, obwohl es sich teilweise als unmöglich erwies, da das System im Laufe der Jahrhunderte öfter verändert worden war. Es war mitunter auch schwierig zu verstehen, in welche Kanälen das Abwasser aus den Häusern entleert wurde.

Der Plan, Venedig mit einer zentralen und modernen Kanalisation zu versorgen, wurde schließlich aufgegeben, da man somit Venedig komplett neu aufbauen hätte müssen. Daher entschied man sich für einen Kompromiss:  Klärgruben, Wartung der bestehenden „gatoli“ und Ausgrabung der Kanäle.

A drawing illustrating what happens under the streets in Venice while cleaning the canals; from a publication edited by Insula

Illustration dessen, was unter den Straßen von Venedig bei der Reinigung der Kanäle passiert; herausgegeben von Insula SpA

A “gatolo” and its hole by the canal during maintenance in Venice; ph. by Michela Scibilia

Ein „gatolo“ und der Ausfluss im Kanal während der Wartung in Venedig; Foto von Michela Scibilia

Manch einer wird sich daran erinnern, wie die Kanäle vom Wasser geleert wurden. Das Projekt wurde von Insula SpA bis 2010 durchgeführt. Pumpen, Absperrungen an den Seiten und wahre Helden gruben den  Fluss aus und ihn und befreiten ihn von jahrelangen Ablagerungen.

Maintenance of canals in Venice, including taking care of the underground utilities and septic tanks; from a publication edited by Insula

Instandhaltung der venezianischen Kanäle, Modernisierung der Gas-, Wasser- und Stromleitungen, Bau von Klärgruben; aus einer Veröffentlichung der Insula SpA

Diese immense Arbeit ging, wo immer dies möglich war, mit dem Bau von Klärgruben einher. Heute gibt es in der Stadt mehr als 7.000 Klärgruben, also ein fragmentiertes, dezentrales Abwassersystem. Die Klärgruben ermöglichen die Abwasserbehandlung, so dass der flüssige Teil oben schwimmt und vor dem Eindringen in den Kanal gereinigt wird. Der feste Teil hingegen muss durch eine Ad-hoc-Maßnahme entfernt werden. In der Stadt kann man die verschiedenen Boote sehen, die fast überall die Klärgruben leeren.

Klärbehälter sind für alle Einrichtungen wie Hotels, Restaurants, Cafés, Museen, Krankenhäuser, Büros etc Pflicht, aber auch in Privathaushalten zu finden, (wo sie jedoch nicht obligatorisch sind.)

Praktisch ist die Lösung der Klärgrube in Venedig nicht immer machbar. Klärgruben brauchen Platz und können nicht auf öffentlichem Gelände oder in der Nähe der tragenden Wände eines Hauses gebaut werden. Das Volumen der Klärgruben wird anhand der Anzahl der Personen berechnet, die in einem Gebäude leben können, und dafür ist nicht immer genug  Platz.

Und selbst wenn es Platz gibt, kommt es vor, dass beim Graben in den Fundamenten der Häuser oft deren Stützpfähle freigelegt werden. In dem Fall verzichtet man natürlich auf den Bau von Kläranlagen, die die Stabilität des Gebäudes ernsthaft gefährden würden. In diesem Fall greift man dann wieder auf den „gatolo“ zurück, der wasserundurchlässig gemacht wird und dessen Ausfluss in den Kanal so hoch angesetzt wird, dass er auch bei Ebbe unter Wasser bleibt.

A “gatolo” in a canal in Venice by Campo Santa Maria Formosa during a very low tide

Ein „gatolo“ in einem Kanal in Venedig beim Campo Santa Maria Formosa bei Ebbe.

In Venedig leben bedeutet daher auch, seine Einzigartigkeit und Vielfalt zu akzeptieren. Organische Reinigungsmittel und umweltfreundliches Toilettenpapier können der Umwelt sehr helfen. Natürlich wollen wir alle, dass Venedig eine moderne Stadt wird, in der keine Abwässer in die Kanäle gelangen. Aber sind wir sicher, dass Venedig so rückständig ist? Schließlich werden auch in modernen Städten mit Kanalisation Abwässer in die Flüsse und Meere geleitet. Nur kann man es dort nicht sehen. Und das ist das Paradox von Venedig: was hier passiert, passiert auch in anderen Städten, allerdings mit dem Unterschied, dass es in Venedig sichtbar ist. Und paradoxerweise sind wir uns der Auswirkungen auf die Umwelt wesentlich mehr bewusst, als die Bewohner anderer Städte.

Luisella Romeo
Best Venice Guides
www.seevenice.it

 

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